Kammern des Schreckens

Sonntag, 7. Dezember 2014

Ein Liebesbrief ans Jetzt

Rachel Joyce
Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry
Das Geheimnis der Queenie Hennessy


Dies ist keine Fortsetzung des Romans Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry, es ist dieselbe Geschichte, aus einer anderen Perspektive - somit wieder etwas ganz anderes. Man meint zwar, wenn man mit jemandem eine Art inniger Seelenverwandtschaft teilt, wenn man eine Person fest verankert im Leben einer anderen sieht, dann existiere so etwas wie eine gemeinsame Zeit. Dies hier ist jedoch das alleinige Gedankengut Queenie Hennessys, voll von Geheimnissen, voll von vermeintlicher Schuld und Erinnerungen und Leben.

Die Handlung des vorherigen Harold Frys ist also für die Nachvollziehbarkeit des vorliegenden Romans nicht notwendig, auch mir fehlt sie gänzlich, ohne, dass ich sie vermisse. So ist auch Harolds Persönlichkeit eine Nebensache, denn gewissermaßen verarbeitet Queenie durch die einseitige, schriftliche Kommunikation mit ihrer großen Liebe um Grunde ihr eigenes Sein - eigentlich kommuniziert sie mit sich selbst (könnte man meinen).

Erinnerungswürdig finde ich persönlich, wie mit Antagonisten umgegangen wird. So ist das Leben, heißt es an irgendeiner Stelle im Roman, und so zeigt dieser sich auch: wie das echte Leben (wenn man von gewissen Bewusstseinsfähigkeiten ablässt, die erstaunlich und unerklärbar, zugleich frustrierend sind, aber trotzdem möglich scheinen - ich weiß, das ist für jemanden, der das Buch nicht gelesen hat, vollkommen sinnfrei).

So zeigt sich an keiner Stelle auch nur der geringste Argwohn gegenüber Menschen, selbst, wenn ihnen eigentlich die Rolle der Bösewichte zugeschrieben wird. Man stellt sich häufig vor, und erlebt auch bisweilen, wie gutmütig Menschen werden, die im Begriff sind, mehr oder weniger vorbereitet zu sterben. Ihnen wird eine Weisheit zuteil, die jungen Leuten fremd sein muss. Weil gewissermaßen sowohl Bedeutsamkeit als auch Nichtigkeit des Lebens im Gleichgewicht sein müssen, bei einer Betrachtung aus der Metaebene. Oder so. Ich kann mich ja jetzt nicht aufspielen, mir fehlt da jegliche Erfahrung.

Obwohl es darum geht, zu zerfallen, zu Staub quasi, ist dieses Werk doch voll von zartem Humor. Sterben heißt nicht immer zu verlieren, zu jeder Zeit des Lebens kann man gewinnen, wenn man sich dem Leben öffnet. Auch im Sterben liegt nicht nur Verlust. 

Und doch ist Sterben manchmal ein langwieriger Prozess, besonders dann, wenn er ein bewusster ist. Genauso langwierig erschien mir die Lektüre bisweilen. Wenn man als Leser Queenie schon längst verziehen hat, sie jedoch noch lange nicht bereit dazu ist und sich im Kreise zu drehen scheint, ist das nicht wirklich förderlich für eine unterhaltsame Zeit. Man fühlt dann auch nicht mehr so mit, wodurch Emotionen in Gähnen verwandelt werden. 

Trotzdem halte ich das Werk im Großen und Ganzen für gelungen. Es ist eines dieser Bücher, deren Zauber noch viel besser wirkt, wenn sie vorgelesen werden. So wirkt die schlichte Sprache noch natürlicher, kurzweiliger.
*  *  *
Verlag und Bildquelle: S. Fischer
Seiten: 400 (Hardcover)
ISBN: 978-3-8105-2198-9
Preis: 18,99€ [D]

Sonntag, 2. November 2014

Von Männern, die nicht wissen, dass sie kahl werden

Haruki Murakami
Von Männern, die keine Frauen haben


Murakami, von einer ganz anderen und doch der altbewährten Seite.


Letztens habe ich in diesem Buch gelesen, während einer Vorlesung, und mir die Frage gestellt: Was für Probleme müssen Männer haben, die frauenlos sind?
Mein Blick wanderte über die vorderen Reihen, von Hinterkopf zu Hinterkopf. Viele maskuline Hinterköpfe beginnen bereits, licht zu werden. Fast schon richtige Glatzen, finde ich, ohne, dass die Kopfbesitzer es auch nur erahnen. Sie haben ja keine Frau, die sie von hinten sehen und darauf aufmerksam machen können. Aber ist das ein Problem, oder ein Umstand, von dem man möglichst lange nichts wissen möchte?

In wenigen Tagen wird Murakami der "Welt"-Literaturpreis 2014 verliehen, nicht nur dafür, dass er ebenso über Haarlosigkeit philosophieren kann, wie ich. Er kann, was man als guter Autor können muss: Welten erschaffen. Das macht er dann auf eine Weise, als sei er der literarische Salvador Dalí unserer Zeit.

Von Männern, die keine Frauen haben: Das klingt ja eher real, weniger surreal. Alltäglich sogar. Das sind beinahe die meisten der Geschichten. Sie handeln von Männern, die es so höchstwahrscheinlich auch gibt. Man liest, dann schaut man sich den Nachbarn an, der sein Bier stets einsam trinkt und nur zu duschen scheint, wenn es unbedingt nötig ist. Egal, wann oder wobei man ihn sieht. Dieser Mensch ist plötzlich ein Spiegel in eine andere Welt. Murakami macht's möglich, aber ich entschuldige mich hiermit bei all den Männern, die auch frauenlos wunderbar funktionieren. Metaphern leben nun einmal von Klischees.

Jede Geschichte ist geheimnisvoll. Man munkelt und will wissen, wie viel von dem beliebten Autor in den Figuren stecken mag, und, wenn überhaupt, welch seltsame, teils erschreckende Erfahrungen der arme Kerl schon gemacht haben muss. Immerhin, umso besser für den Interessantheitsgrad der Handlungen.
 Der für ihn typische, düstere Surrealismus ist präsent, sodass ein geübter Murakami-Gernleser nicht von diesem Werk enttäuscht sein kann. Dass die deutsche Version noch vor der englischen publiziert wurde, passt jedoch zu dem einzig negativen Punkt, der mich allerdings nur zu Beginn störte. Die Übersetzung wirkt gewissermaßen gehetzt, es wurde zunächst wenig auf einen abwechslungsreichen Wortschatz geachtet, viele Worte wiederholen sich. So, dass man ein Trinkspiel daraus machen könnte. Das gibt sich jedoch, man muss sich nicht einmal sonderlich dran gewöhnen.
(Betrunken ist man dann trotzdem schon. Oder fühlt sich Murakamis Schreibstil wie Betrunkenheit an? Wenn ich so darüber nachdenke, ja.)


Anscheinend wurde die Gelegenheit genutzt, mal eben auch der Literatur, dem Schreiben an sich und Vorbildern zu huldigen. Der Titel bezieht sich auf Hemingways Men Without Women.

Bemerkenswert ist diesbezüglich auch die Geschichte Samsa in Love, eine Umkehrung der berühmten Kafka-Erzählung Die Verwandlung: Hier verwandelt sich nicht Gregor Samsa in einen Käfer, sondern ein Käfer in Samsa. Wie würde sich ein Insekt fühlen, wenn es plötzlich mit den schrägen sexuellen Instinkten eines menschlichen Mannes konfrontiert würde? Liebe ist eine seltsame Angelegenheit, soll das heißen. Hinter all dem Alltäglichen, dem Gewohnten der Gefühle und des Körperlichen steckt stets etwas, das Lächerlich ist oder zumindest unbegreiflich. Immer neu. Vor allem kann der Schlag einen auch treffen, wenn die Welt um einen herum zusammenbricht (oder gerade dann). Die wahren Probleme und Interessen der Menschheit sind geschlechtlichen Ursprungs, könnte man meinen. Gleichzeitig ist es möglich, dass es sich hierbei einfach um eine faszinierende Geschichte der Faszination willen handelt. Die Interpretationen gefallen mir trotzdem.
[Seite 30] „Der zwischenmenschliche Umfang, besonders der zwischen Mann und Frau ist - wie soll ich sagen? - zu komplex. Verschwommen, selbstsüchtig, schmerzhaft.“
Dieses Buch ist Futter, wie ein nicht sättigendes, eher Lust auf mehr machendes Menü aus sieben Gängen. Ein bisschen Liebe zur Literatur, ein bisschen Liebe zu Frauen, ein bisschen Liebe zum Seltsamen, ein bisschen Liebe zur Liebe.
*  *  *
Verlag und Bildquelle: DUMONT
Erschienen am: 4.10.2014
Seiten: 254 (Hardcover)
ISBN: 978-3-8321-9781-0
Preis: 19,99€ [D]

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Gähnen verursachender Trübsinn

François Saintonge
Dolfi und Marilyn



Wir befinden uns im Frankreich des Jahres 2060. Tycho Mercier ist - zumindest sagt er das von sich selbst - angesehener Geschichtsprofessor; in gewisser Weise tröstet ihn diese Tatsache darüber hinweg, dass seine Frau Phoebé sich von ihm getrennt hat und er allein für die Erziehung des Sohnes Bruno verantwortlich ist. Zum Glück scheint dieser ebenso wissbegierig zu sein wie sein Vater. Gerade das dunkle Kapitel deutscher Geschichte fasziniert ihn - so strahlt der Junge übers ganze Gesicht, als ihm die Ehre zuteil wird, mit einem echten Klon (dem sechsten) Adolf Hitlers Kriegsspiele auf dem Computer spielen zu dürfen.
Herrlich, oder?
Jedoch handelt es sich um einen verbotenen Klon. Oh, nein! Was machen wir nun?, fragt sich Tycho, und fragt sich. Und fragt sich. Fast ist er in der Lage, sich seine Frage zu beantworten, da taucht ein Abbild Marilyn Monroes auf, was zu weiteren Verkomplizierungen führt. Man darf sagen: der Professor ist restlos überfordert. Dies ist das Buch seiner sich stets um sich selbst drehenden Gedanken.

Ein Überraschungserfolg, der bei der deutschen Leserschaft nicht recht ankommen will. 

Dem Autor fehlt jegliches Talent des Kürzens, habe ich den Verdacht. Das ist beinahe das, was mich am meisten an diesem Roman stört. Dazu kommen die hohen Erwartungen, die der witzige Titel, die verrückte Idee und das ungewöhnliche Cover setzen.
 Spannung ist im Grunde nie vorhanden, sicherlich interessante Szenen zwar, aber auf seltsame Weise ungenutzt. Vielleicht soll hierdurch bekräftigt werden, dass Merciers Leben trist und seine Abenteuerlust stark beschränkt ist? Aber wieso schreibt man einen Roman, der die Leser absichtlich langweilt? Nein, der Unterhaltungsversuch ist eindeutig vorhanden - in Form von Adolf Hitler. Zieht ja vermutlich immer, hat nur hier nicht funktioniert, höchstens provokativ, trotzdem effektlos.

Saintonge, das Pseudonym eines angeblich bereits renommierten französischen Autors, konzentriert sich hier auf die Erschaffung eines ganz und gar nervtötenden, leicht beirrbaren und erwürgenswerten Protagonisten. Tycho Mercier steht ständig auf dem Schlauch, auch wenn der Leser bereits Schlussfolgerungen ziehen kann. Das mag ein lustiges Konzept sein, kann einen allerdings auch zur Weißglut treiben.
Man könnte meinen, dass er die instabilen Persönlichkeiten des deutschen Volkes widerspiegeln soll, die es Hitler damals erst recht möglich gemacht haben, als Idealfigur an die Macht zu gelangen. In Dolfi und Marilyn wird die Macht der geschickt manipulierten Atmosphäre thematisiert, die sogar fest verankerte Ideale umkehren kann. Das aber nur am Rande - man muss bis zum Ende durchhalten, um so weit zwischen den Zeilen lesen zu können. Dazu kommt, dass dieses Thema nicht einmal anschaulich, eher langatmig umgesetzt wird.

Kritisiert wird an der Lektüre unter anderem, dass die Zukunftsversion wenig Futuristisches an sich hätte, dem muss ich jedoch widersprechen. Es werden keine Printbücher mehr produziert, ein Teil Deutschlands ist unabhängig geworden, die durchschnittliche Lebenserwartung ist stark gestiegen, und so weiter, abgesehen vom Klonen. Nichtsdestotrotz handelt es sich um Details, die jedem hätten einfallen können, nicht wirklich originell, nicht wirklich überraschend. Insgesamt kann man sich nur sehr schwer ein Bild vom Leben außerhalb des Professorenhirns machen.
Wie sollen auch die Farben einer Landschaft für deren Schönheit sprechen, wenn einem der Kopf in einer Tüte steckt? Saintonge setzt dem Menschen ungefragt eine Tüte auf, kann man ihn dafür vielleicht anklagen?

Zusammenfassend kein überzeugendes Werk. Ideen sind reichlich vorhanden, man kann sogar einigen Tiefsinn entdecken. Es fehlt jedoch die Würze. Der Humor ist als solcher kaum erkennbar, denn das hieße ja, der Professor sei witzig, oder man könne wenigstens über ihn lachen. Zwar spielt der Autor mit Metaphern und Ironie, die Sprache wird dadurch aber nicht weniger trüb. Tatsächlich ist es eine Qual, Merciers Gedankengänge verfolgen zu müssen, man lacht nur, wenn man das Buch zum letzten Mal zuschlagen darf: vor Erleichterung. 


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Dolfi und Marilyn
Verlag und Bildquelle: carl's books
Erscheinungsdatum: 8.09.2014
Seiten: 288 (Paperback)
ISBN: 978-3-570-58537-5
Preis: 14,99€ [D]