Kammern des Schreckens

Montag, 30. Juni 2014

Binewskis erstürmen wieder Herzen

Katherine Dunn
Binewskis
Verfall einer radioaktiven Familie



Die Binewski-Kinder sind aufgrund ihrer erzwungenen Andersartigkeit das große Kapital ihrer Zirkusfamilie. 
Wer ein Star werden will, braucht das nötige Potenzial. Ist ja immer so. Papa Binewski ist selbsternannter Freizeitarzt, immerhin kennt er sich gut genug mit allen möglichen Substanzen aus, die gerade eben so lebendige Babies aus dem Leib seiner Frau hervorkommen lassen (jedoch auch nicht immer). Schönerweise entspringen ihr keine lästigen Normalos, denn gesetzt wird auf möglichst überraschende Gliedmaßenzahl, am liebsten deren vollkommene Abstinenz. Wenn aber ein Frischling keinerlei Besonderheiten aufweist als einen Buckel und Albinismus, ist das schon einigermaßen enttäuschend. Jenes trifft auf die Erzählerin zu, Olympia, die wenigstens eine angenehme Stimme hat, mit der sie die Nummern ihrer Geschwister-Sternchen anmoderieren kann. Ihre ganz persönliche Geschichte ist die Geschichte der Binewskis, ähnlich jener der Buddenbrooks, eine Erzählung von Aufstieg und Zusammenbruch. 

Ich verwechselte den Nachnamen unserer einzigartigen Protagonisten mit Aldous Huxleys Bokanovsky-Geburten, wobei Parallelen nicht wegzudenken sind. Immerhin handelt es sich bei dem Nachwuchs um absolute Wunschkinder, mal mehr, mal weniger. Ab und zu nicht freakig genug, trotz augenfälliger Besonderheiten. Katherine Dunn entwickelt den Begriff der Schönheit neu in seiner ganzen Abstraktion und Widerwärtigkeit.

Die Autorin lässt hinterfragen, was im Grunde schon immer hinterfragt worden ist, und doch auf eine ganz neue Weise, allen voran Moral, Schönheit, Selbstwert. Und was es sonst noch gibt. Ich habe keine Vorstellung davon, welche Bereiche mit dieser überwältigenden Geschichte insgesamt angesprochen werden. Ebenso bin ich mir sicher, dass es zu subjektiv würde, fühlte ich mich doch so direkt angesprochen und bei der Schulter gefasst, als wäre dieser Roman nur für mich. Womöglich ist er für jeden anders. Pervers, widerlich, genial, kurios, bunt, trist, milchig, säuerlich. Wie auch immer. Für meine Version trifft alles zu.

Die Originalausgabe wurde vor einer halben Ewigkeit bereits mit grandiosem Erfolg veröffentlicht, galt jedoch bisher als unübersetzbar. Ich will gar nicht erst wissen, wie viel durch die Dolmetscherei verloren gegangen ist, ich bin einfach froh über dieses Werk und die Möglichkeit, es auch auf Deutsch lesen zu können. Es handelt sich ganz offensichtlich um eines der ungewöhnlichen Sorte, aber nicht nur, weil möglichst viele schräge Anomalien hineingespritzt worden sind, sondern, weil trotz überwältigender Andersheit ganz sensibel an der Leserwahrnehmung herumgespielt wird. 

Hinter einfacher Sprache steckt komplizierte Komposition. Zeitwechsel zwischen Glanz und Abfall erfrischen die Atmosphäre, paradoxerweise, und erwecken den Eindruck eines großen Geheimnisses, an welches Schritt für Schrittchen herangeführt wird. Der Leser weiß schon, was in etwa passiert sein muss, jedenfalls im Großen und Ganzen, aber er wird feinfühlig verunsichert, um am Ende mit der Nase ans wirklich Große gestoßen zu werden. Und dieses wirklich Große ist wie ein fünfköpfiger Drache mit Eselsohren und Rollschuhen an jeder Kralle, der seine Mäuler aufreißt, Wasserfontänen spritzen lässt und im Kanon brüllt: Du hast es eben nicht gewusst.

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Verlag und Bildquelle: Berlinverlag
Seiten: 512 (Hardcover + Schutzumschlag)
ISBN: 978-3-8270-1072-8
Preis: 22,99€ [D]